Sonderabfälle
Jahrtausendelang hat die Menschheit Quellen verehrt, das Wasser war dem Schutz der Götter unterstellt. Das Christentum hat diese Praxis übernommen, wie in der Pilgerstätte Lourdes und anderswo in Europa heute noch sichtbar. Die spirituelle Aufladung der Quellen zeugt davon, dass sich die Menschen über die Bedeutung von Wasser bewusst waren. Dass sie um seine Rolle für die Gesundheit wussten und die Wichtigkeit des Wasserzyklus anerkannten. In einer solchen Weltsicht ist es schlicht undenkbar, dass Wasser verschmutzt, eine Quelle vernichtet oder ihr Einzugsgebiet belastet wird.
Früher gingen die Überreste aus menschlichen Siedlungen vollumfänglich wieder in den Kreislauf der Natur ein. Für alle anderen Lebewesen ausser dem Menschen ist das heute noch der Fall. Abfall wird zu Humus und Nahrung für andere Gattungen. Erst das industrielle Zeitalter von Chemie und Atom brachte in die Naturzyklen Stoffe ein, die nur schwer oder gar nicht abbaubar sind. Die Menschen wollten die Natur beherrschen und haben damit eine Verantwortung auf sich geladen, die sie gar nicht in der Lage sind zu tragen.
Mit der Zunahme von Bevölkerung und Konsum hat dieser Tatbestand planetarische Dimensionen angenommen. Martin Forters Forschungsarbeit zeigt, wie problematisch die Abfälle sind, die wir fast nicht mehr beseitigen können. Was verschmutzt wurde, muss gereinigt, saniert und der Natur in dem Zustand von Reinheit zurückgegeben werden, wie wir es ursprünglich vorgefunden haben.
Hören wir auf damit, nach Entschuldigungen für die Verantwortlichen zu suchen: Jene, die diese Abfälle verursacht haben, wussten sehr wohl, was sie taten. Wer mag glauben, dass Wissenschafter, die komplexe chemische Moleküle geschaffen haben, sich nicht über die ökologischen Risiken der von ihnen produzierten Abfälle im Klaren waren? Die direkten Verantwortlichen sind bekannt. Die Pharma- und Chemiekonzerne müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, ihre Abfälle beseitigen und der Bevölkerung ihr Trinkwasser zurückgeben. Jegliche Ausflüchte sind eine Gefahr für die Gesundheit von mehr als 200'000 Menschen in der Region Basel und für viele andere anderswo – und dies wegen Konzernen, die ausgerechnet im Bereich Gesundheit tätig sind.
Was nie hätte geschehen dürfen, ist dennoch zur Tatsache geworden: Das Wasser unserer Flüsse ist nicht mehr trinkbar und das Grundwasser, unsere wertvollste Ressource, ist mit Stoffen verunreinigt, deren Persistenz weit mehr als eine Generation überdauert.
“Eine Generation”, das ist auch die Einheit, die ich in meiner Eigenschaft als Direktor des Bundesamtes für Umwelt, Wald und Landschaft als Grundlage genommen hatte, um die Sanierung von Altlasten zu verlangen: Jegliche Altlast, welche die Qualität des Grundwassers gefährdet, muss innerhalb der Zeitspanne einer Generation saniert werden. Denn wer kann sich anmassen, die Umwelt über seine eigene Lebensdauer hinaus zu gefährden, vor allem wenn es um die lebenswichtige Ressource Wasser geht?
Es waren insbesondere die Findigkeit und der Unternehmergeist der chemischen und pharmazeutischen Industrie, welche der Schweiz zu ihrer industriellen Kraft verholfen haben. Diese Intelligenz und Kompetenz, dieser Reichtum muss heute unverzüglich in die systematische und definitive Sanierung der Altlasten fliessen. Wer als Verantwortlicher für diese Umweltverschmutzung heute nicht handelt, wird sein Geld nicht ins Grab mitnehmen und zudem die Schande tragen müssen, die Unversehrtheit von Mensch und Natur beschädigt zu haben. Die Sanierung der Altlasten ist eine ökologische und moralische Pflicht, der sich kein Verantwortlicher entziehen darf.
Es ist zu hoffen, dass wir mit Massnahmen zur Prävention, Wiederverwertung und Beseitigung von giftigen Abfällen in der Schweiz und in den Nachbarländern nun keine neuen Altlasten mehr verursachen. Weltweit sieht die Lage jedoch anders aus. Viele Gegenden werden heute noch durch Industrieabfälle und den Einsatz von giftigen Chemikalien verseucht. Deren Produktion und Nutzung konnten die internationalen Konventionen von Basel, Rotterdam und Stockholm bisher nicht unterbinden. Die politischen, technischen und finanziellen Mittel der Schweiz müssen auch dafür eingesetzt werden, diese Probleme auf internationaler Ebene zu lösen.
Leider wird heute eine neue Generation von Schadstoffen produziert, welche selbst in sehr geringen Mengen die menschliche Gesundheit und die Natur gefährden. Die Folgen stechen nichts ins Auge, sind aber langfristig gefährlich. Die Herstellung von Mikroschadstoffen und Produkten der Nanotechnologie beschleunigt sich. Die Beherrschung dieser Produktionen hält mit diesem Tempo jedoch nicht Schritt. Wir sind gegenüber der Industrie zu nachsichtig und müssen für neue Produkte viel strengere Schädlichkeitstests fordern, als es heute der Fall ist. Produkte, deren Unschädlichkeit nicht erwiesen ist, dürfen nicht auf den Markt gelangen.
Um die Industrie zu mehr Vorsorge und Verantwortung anzuhalten, plädiere ich für die Schaffung eines Internationalen Umwelttribunals. Damit könnten die Verursacher von Umweltverschmutzung zu Schadenersatz verurteilt und Umweltverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden.